Der Eurovision Song Contest ist nicht politisch. Dieses Mantra tragen die Verantwortlichen der European Broadcasting Union (EBU) seit Anbeginn des eurovisionären Zeitalters – also 1956 – wie eine Hostie vor sich her. Und genau wie eine Hostie beruht dieses Mantra in erster Linie auf dem Glauben an einen unpolitischen Liederwettstreit in einem vereinigten Europa.
Der Jahrgang 2018 bestätigt: der Contest präsentiert höchst politische Lieder. Und der Trend verstärkt sich in den letzten Jahren zusehends. Je unruhiger die politische Großwetterlage in Europa wird, je instabiler die politischen oder gesellschaftlichen Gefüge in einzelnen Ländern werden, desto zahlreicher werden politische Inhalte auf der großen Bühne. Natürlich wird auch immer noch über Liebe und Verlust gesungen. Selbstverständlich gibt es auch weiterhin die Beiträge, die ausschließlich farbenfrohe Unterhaltung bieten. Dennoch ist es nicht zu übersehen: eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Zeit ist dermaßen drängend, dass sie auch vor der größten Unterhaltungsshow nicht Halt macht. Und das ist gut so.
Welche Themen stehen in diesem Jahr zur Verhandlung? Wie ‚aktuell’ ist das politische Liedgut? Hier sind sieben Beiträge über #meetoo, Terrorangst und die sogenannte Flüchtlingskrise, die man nicht überhören sollte:
ISRAEL: NETTA – „TOY“
Die junge Loop-Künstlerin Netta, Gewinnerin einer israelischen Castingshow, wirkt ein bisschen wie Beth Ditto. Eine kurvige Powerfrau mit „Du kannst mich mal!“-Attitüde. Ihr Song „Toy“ greift direkt in die #metoo-Debatte ein und proklamiert wuchtig: „I’m not your toy, you stupid boy!“ Ein Befreiungsschlag, der bunt, tanzbar und andeutungsreich ist. So greift Netta die männliche Sichtweise auf, die in Frauen allzu oft die kleinen Mädchen zu sehen versucht: „The Barbie got something to say, hey. My ‘Simon says’ just leave me alone. I’m taking my Pikachu home. You’re stupid just like your smartphone.” Israel gibt in diesem Jahr eine Antwort auf eine weltweit geführte Debatte. Es stünde der Eurovisionsfamilie gut, einen solchen Song zum Sieger zu machen. Zumal es der erste israelische Sieg nach Dana International (1998) wäre, die insbesondere den Transsexuellen eine große öffentliche Sichtbarkeit verschaffte.
SLOWENIEN: LEA SIRK – „HVALA NE!“
Lea Sirk ruft den ZuschauerInnen zu: „Hvala ne!“ – Danke nein. Es ist eine musikalisch moderne und kantige Kritik an dem Druck junger Menschen, sich perfekt in Szene setzen zu müssen. „Kot lutka za ljudi. Ki se skrivajo za maskami. Enaki, popolni, a nezadovoljni. Hvala, ne, ne, ne! / Ich bin wie eine Puppe für die Menschen, die sich hinter Masken versteckt. Gleich, perfekt aber unzufrieden. Danke, nein, nein, nein.“ Lea Sirk ruft zu Konsumkritik und Individualität auf. Ein gesellschaftlicher Weckruf an die junge Generation: „Ne verjemi vse, kar ponujeno ti je. Misli na glas in upaj. Da skrivnost je tem, ne prodajaj se vsem. / Glaub nicht alles, was man dir vorlegt. Denk laut und hoffe. Das Geheimnis liegt darin, sich nicht an jeden zu verkaufen.“ – Bitte ja!
FRANKREICH: MADAME MONSIEUR – „MERCY“
Das Mittelmeer hat in den vergangenen Jahren als Massengrab für Geflüchtete zahlreiche Negativschlagzeilen hervorgebracht. Der moderne Chanson von Madame Monsieur erzählt die Geschichte von dem kleinen Mädchen Mercy, das bei der Überfahrt über das Mittelmeer geboren wurde: „Je suis née ce matin. Je m’appelle Mercy. On m’a tendu la main. Et je suis en vie. Je suis tous ces enfants. Que la mer a pris. Je vivrai cent mille ans. Je m’appelle Mercy. / Ich wurde an diesem Morgen geboren. Mein Name ist Mercy. Man hat mir eine Hand gereicht. Und ich bin am Leben. Ich bin all diese Kinder, die vom Meer genommen wurden. Ich werde hunderttausend Jahre leben. Meine Name ist Mercy.“ Es geht um Hilfe und Solidarität, um Dankbarkeit und Gnade. Ein Lied zum Innehalten und Nachdenken.
ITALIEN: ERMAL META & FABRIZIO MORO – „NON MI AVETE FATTO NIENTE“
Ermal Meta und Fabrizio Moro singen über die Angst vor dem Terror, die Gleichheit der Religionen und die Sinnlosigkeit von Gewalt. Das Lied „Non mi avete fatto niente / Ihr konntet mir nichts anhaben“ reflektiert den persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit der Terrorangst, die in den letzten Jahren in ganz Europa immer präsenter wurde. Der Titel des Liedes nimmt Bezug auf einen offenen Brief mit der Überschrift „Ihr werdet meinen Hass nicht bekommen“, den der Ehemann eines Opfers des Bataclan-Anschlags auf Facebook veröffentlicht hatte. Im Liedtext heißt es trotzig: „Non mi avete fatto niente. Non avete avuto niente. Perché tutto va oltre le vostre inutili guerre. / Ihr habt mir nichts angetan. Ihr habt nichts davon gehabt. Weil alles über Eure unnützen Kriege hinaus weitergeht.“
GRIECHENLAND: YIANNA TARZI – „ONEIRO MOU“
Eine düstere Ballade als Spiegel der gesellschaftlichen Stimmung schickt Griechenland in diesem Jahr nach Lissabon. Yianna Tarzi sing „Oneiro mou“ – mein Traum. Es handelt sich dabei um ein fiktives Zwiegespräch zwischen Griechenland und seinem Volk, das auch als zwischenmenschliche Liebeserklärung gelesen werden kann: „Πώς θες να σου το πω. πως για σένα εγώ θα πέθαινα, τη ζωή μου θα στην έδινα. Τέλος και αρχή, όλα είσαι εσύ. / Wie soll ich dir sagen, dass ich für dich sterben würde. Ich würde mein Leben für dich geben. Anfang und Ende, all das bist du.“ Es geht um das Miteinander in Zeiten großer Veränderung – nicht in klagenden Worten, sondern poetisch erhöht: „Γιατί θέλεις να μ‘ αλλάξεις. και το μπλε μου να ξεβάψεις. / Warum willst du mich verändern? Und mein Blau neu anstreichen?“ Mystisch-folklorische Elemente unterstreichen die Wurzeln der Hellenen.
GROßBRITANNIEN: SURIE – „STORM“
Auch der Brexit schafft es auf die Bühne – allerdings in einem ermutigenden, poppigen Gewand. SuRie singt über den „Storm“, der einen durchschüttelt, aber nicht für immer bleiben wird: „Storms don’t last forever, forever, remember. We can hold our hands together through this storm.“ Der Text ist eurovisionär und cheesy. Er verpackt eine klare Botschaft in einem geradezu belanglos anmutenden Text. Immerhin appeliert SuRie an ihre Landsleute (und alle anderen in stürmischen Zeiten): “Spread your love, give all you got. Hold your head up, don’t give up, no no.”
IRLAND: RYAN O’SHAUGHNESSY – „TOGETHER“
Der Eurovision Song Contest gilt klischéehaft als größte Bühne der LGBT+-Community. Alles ist irgendwie bunt, übertrieben und – im doppelten Wortsinne – gay. Auch in diesem Jahr darf die Sichtbarkeit gleichgeschlechtlicher Liebe nicht fehlen. Doch ist sie in diesem Jahr ruhig und emotional. In dem Song „Together“ geht es schlicht um das Zusammensein. Und darum, wie schwer das sein kann: „We were drifting like two icebergs out on the ocean. I was doing all I could to keep you close. There were troubles in the water. You swore it was nothing. You said that we would always stay afloat.” Der Songtext lässt in all seiner Schlichtheit nicht auf eine gleichgeschlechtliche Liebe schließen. Es reflektiert einfach die Universalität der Liebe. Das zugehörige Musikvideo jedoch zeigt zwei junge Männer, die gemeinsam durch Dublins Straßen ziehen und sich zaghaft annähern.