Vom 16.-18. Februar 2018 durfte ich auf Einladung der Stiftung EVZ an der Theaterwerkstatt „Theater macht Geschichte. Künstlerische Interventionen für die Zukunft“ im Theater der Jungen Welt in Leipzig teilnehmen. Über 100 ProjektpartnerInnen, Theaterschaffende und WissenschaftlerInnen haben die Rolle und die Spielräume des dokumentarischen Theaters der Gegenwart diskutiert. Ein besonderer Fokus lag auf der Frage, wie sich eine Erinnerungskultur der ZeitzeugInnen nach deren Tod ausgestalten kann. Dafür fördert die Stiftung EVZ seit einigen Jahren Projekte, die Zeitzeugnisse – also historische Quellen – in den Mittelpunkt der historischen Vermittlungsarbeit stellen.
Im Zentrum der Werkstatt standen vier parellele Workshops, die sich mit (1) authentischen Orten und Gedenkstätten, (2) neuen Medien, (3) theaterpädagogischen Ansätzen sowie (4) Quellen und Autorenschaft aufeinandersetzten. Ich selbst konnte den vierten Workshop besuchen. Mich als Historiker stellte er vor die unerwartete Frage, wie groß die Freiheit des Theaters zur Fiktion sei. Am Beispiel der Inszenierung „Juller“, eine Auftragsarbeit des TDJW für den DFB (ab 15 Jahre) zur Geschichte des jüdischen Fußballnationalspielers Julius Hirsch, mit der das Theater der Jungen Welt erfolgreich heimisches wie auswärtiges Publikum unterhält, wurde der Umgang mit fiktiven Szenen und Aktualisierungen diskutiert. Das TDJW vertrat den Standpunkt, dass die Emotion der historischen Geschichte Hirschs der eigentliche Motor zum reflektierten Umgang jugendlicher ZuschauerInnen mit Rassismus, Ausgrenzung und Verfolgung in der Gegenwart sei. Die Freiheit zur Fiktion sei ein gutes und zusätzlich emotionalisierendes Mittel des Theaters in diesem Prozess. Der künstlerisch-ästhetische Aushandlungsprozess erhält damit eine Bedeutung, die deutlich über der historisch-dokumentarischen liegt. Oder anders: Aus meiner Sicht wird hier Geschichte als beliebiges Vehikel zur Emotionalisierung des Publikums benutzt; die eigentlich Biografie des Protagonisten und ihre mögliche Funktion im Sinne einer historisch-politischen Bildung tritt in den Hintergrund. Intendant Jürgen Zielinski ging in einem Interview mit dem Deutschlandfunk sogar soweit zu sagen: „Theater darf nicht die Fortsetzung des Lehrplans mit anderen Mitteln sein.“ – Ich würde entgegnen: Doch, darf es.
Der Umgang mit Zeitzeugnissen scheint alle Theaterschaffenden auf eine Probe zu stellen: Welchen Raum sollen die Zeitzeugnisse in der Inszenierung einnehmen? Verhandelt man die Inhalte dieser Quellen oder sind sie Mittel zum Zweck einer emotionalen Auseinandersetzung? Wie gestaltet man „Emotion“ in einem Theaterstück mit dokumentarischem Anspruch? Kann und will man die Montagemechanismen des Überlieferungs- und Entstehungsprozesses den ZuschauerInnen tranparent machen? Die Diskussionen brachten zahlreiche Erfahrungen und Herangehensweisen hervor, die – nicht überraschend – nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren. Nichtsdestotrotz bot der Workshop die hervorragende Möglichkeit zur Vernetzung und zur Erweiterung des eigenen Blickfeldes. Denn: Allein die 13 aktuell von der Stiftung EVZ geförderten Projekte, die sich zu Beginn der Theaterwerkstatt blitzlichtartig vorstellten, vereinten eine beeindruckende Bandbreite zum Umgang mit Geschichte mit Mitteln des Theaters. Dass die Stiftung in diesem Jahr die letzte Förderrunde mit Theaterprojekte ausschreibt, ist indes bedauernswert. Hier gäbe es auch mittelfristig lohnenswerte Ansätze, um die Rolle der Zeitzeugnisse in der historischen Bildung zu verhandeln.
Ein persönliches Highlight entdeckte ich in der zweiten Aufführung: „Swing Heil!„. Eine Produktion von Peter Tiefenbrunner und Barbara Scheck, die eine beeindruckende szenische Collage über die Geschichte der Swing-Jungend und ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus geschaffen haben. Ein höchst musikalisches Ensemble zeigt eine Inszenierung, die fast ausschließlich auf Zeitzeugnisse setzt. Es gelingt „Swing Heil“ damit auch, historische Texte als solche transparent zu machen. Sehenswert!
An die Stiftung EVZ und das Theater der Jungen Welt ein herzliches Dankeschön für die Einladung, die inspirierenden Diskussionen und die hervorragende Organisation vor Ort!