Authentizität im Theater?

Twitter regt zum Nachdenken an. Besonders wenn man – wie heute – direkt dazu aufgefordert wird:

Nun ist es mir leider unmöglich auf eine derart umfassende Debatte in 140 Zeichen zu antworten, sodass ein kurzer Blogbeitrag fällig ist. Zentrale Frage: Sollten wir uns mit Authentizitätsfragen im Theater beschäftigen? Die kurze Antwort: Ja, unbedingt. Die längere Antwort ist zugleich eine indirekte Antwort auf den Kollegen Eugen Pfister (Twitter @Trogambouille) und seinen bildreichen Abgesang auf Authentizitätsdebatten über digitale Spiele mit historischen Settings.

Dies ist zugleich eine wunderbare Vorbereitung auf unsere Tagung „Geschichte im Rampenlicht„, für die wir u.a. den Historiker Achim Saupe und die Literaturwissenschaftlerin Raphaela Knipp eingeladen haben, um mit uns über Authentizität im Geschichtstheater zu debattieren. Es folgen somit ein paar vorbereitende Ideen, in kürzester Zeit formuliert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Anspruch

Es gibt ebenso wenig das Theater, wie es das digitale Spiel oder die Fernsehserie gibt. Gemein ist allen Formaten die audiovisuelle Vermittlung von Geschichtsbildern. Doch nicht jedes Format hat gleichermaßen den Anspruch, Geschichte in Form von authentischen Geschichtsbildern vermitteln zu wollen. Vielen Formaten geht es um das Setting oder die Atmosphäre. Andere Formate – und da zähle ich meine eigenen Theaterprojekte hinzu – haben einen dokumentarischen Anspruch. Im Fokus steht die audiovisuelle Präsentation historischer (vor allem Text-)Quellen, die durch SchauspielerInnen remedialisiert werden. Dazu gehört das Dokumentartheater, der Dokumentarfilm (oder dokumentarische Elemente in anderen filmischen Formaten) oder die digitale Simulation. Für Formate mit dokumentarischem Anspruch ist die Authentizitätsdebatte essentiell. Für Formate mit primärem Unterhaltungsanspruch ist die Frage nach Authentizität sekundär. Generell sollte man die verschiedenen Ebenen nicht vergessen: Geht es um authentische Quellen? Um authentische Darstellung? Oder gar um authentische Geschichtsbilder?

Remedialisierung von Quellen

Die Remedialisierung von Quellen – also die Verkörperung und Aufführung historischer Texte durch SchauspielerInnen – ist gleichsam eine Sollbruchstelle der Vermittlung: Sie bedient (a) gegenwärtige Aneignungstrends (gerade junge Menschen schauen sich lieber eine Aufführung/ein Video/ein Spiel an als sich sich durch ein Sach- oder gar Fachbuch zu arbeiten) und (b) den Wunsch der HistorikerInnen nach der Nutzung authentischen Quellen. Zugleich ist das Theater ein Ort mit einer Bühne, also einer räumlichen Trennung zwischen SpielerInnen und Publikum. Das Bühnengeschehen der SpielerInnen wird grundsätzlich als Kunstprodukt wahrgenommen. (Anm.: Der Inhalt aber häufig nicht.) Auch Dokumentartheater ist ein Geschichtsbild, das durch die Interpretationen der DramaturgInnen, RegisseurInnen, SchauspielerInnen UND ZuschauerInnen entsteht. Oder anders: Als theatermachender Historiker biete ich dem Publikum meine Interpretation an.

Inszenierung – ein zweischneidiges Schwert

Keine Inszenierung ohne „roten Faden“, ein Narrativ, eine Aussage. Mit der Auswahl der Quellen, ihrer Zusammenstellung und Anordnung, ihrer Kürzung und Montage werden Interpretationen des Materials herausdestilliert, die den ZuschauerInnen angeboten werden. Einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung haben die Techniken der Inszenierung: Wer verkörpert die Quellen auf der Bühne? Mit welcher Haltung? Wie wird die Stimme eingesetzt? In welche Szene ist die Darstellung eingebettet? Gibt es Kostüme? Requisiten? Licht? Musik/Sounds? Nebel? Wird die dargestellte Quelle (bspw. via Projektion) visualisiert? All diese Elemente können die ZuschauerInnen lenken, um eine bestimmte Haltung gegenüber der Quelle einzunehmen. Konkret: Der Brief einer Frau an ein Ministerium, in dem sie darum bittet ihren Mann nicht abzuschieben, gewinnt durch eine dunkle und bedrohliche Bühne an Intensität; eine bittend-klagende Stimme fordert das Mitgefühl der ZuschauerInnen. Als Zuschauer öffne ich mich für das Gesehene; ich nähere mich der Quelle mit Empathie und nehme sie dadurch vielleicht anders wahr, als wenn ich sie lesen würde.

Ich-Perspektive

Unbestritten ist, dass die Aneignung von Geschichte durch eigenes Vorwissen und individuelle Assoziationen bestimmt wird. Jede Inszenierung holt die ZuschauerInnen also an einem sehr individuellen Punkt ab – oder versucht es zumindest. Mal konkret: Für Theatermacher ist es eine besondere Herausforderung in Zeiten nach G20-Protesten und in den Medien als „linksextremistische Ausschreitungen“ betitelten Protesten den historischen Furor der 1970er Jahre über den Radikalenerlass und die Berufsverbote gegen „Linksextreme“ auf der Bühne zu vermitteln. (Dass dies doch gelingen kann, zeigt die aktuelle Inszenierung der Bremen Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“) Politische, gesellschaftliche und soziale Standpunkte sowie Herkunft und Sozialisation prägen unsere Wahrnehmung des Bühnengeschehens. Was ich auf der Bühne sehe, ist also stets das, was ich auf der Bühne sehen will und kann.

Zauberwort „Multiperspektivität“

Die Gefahr jeder theatralen Inszenierung besteht in einer einseitigen Darstellung. Als WissenschaftlerInnen – und besonders als HistorikerInnen – wissen wir, dass es eines multiperspektivischen Zugriffs bedarf. Um den ZuschauerInnen die Bildung einer eigenen Meinung zu ermöglichen, braucht es zu möglichst jeder Position auch eine Gegenposition. An beiden kann man sich mit seinem Vorwissen reiben.

Wann ist ein Dokumentartheaterstück gelungen?

Aus meiner Sicht ist eine Inszenierung dann erfolgreich, wenn sie dazu anregt, eigene Haltungen und Positionen zu hinterfragen. Das kann sich zum einen auf die Dekonstruktion der eigenen Geschichtsbilder beziehen, aber auch auf den Transfer historischer Ereignisse oder Entwicklungen in die individuelle Beurteilung der Gegenwart. Hilft dabei die Diskussion über Authentizität? Ja. Die Reflexion über den Umgang mit Quellen, Präsentationsformen und eigenen wie fremden Geschichtsbildern sensibilisiert die MacherInnen von dokumentarischem Theater für die Wirkungsweisen ihrer Inszenierungen. HistorikerInnen sind in diesem Prozess keinesfalls nur „GutachterInnen im Stile der ‚Kunst und Krempel‘-Fernsehreihen“ (Eugen Pfister) oder gar „Wutbürger*innen der Erinnerungskultur“ (Nico Nolden). Es geht nicht um die Authorisierung historischer Details, sondern um die Funktions- und Wirkungsweise von Geschichte auf heutige RezipientInnen.

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Ergänzungen (18. Oktober 2017)

Erfreulicherweise reiht sich mein spontan zusammengeschriebener Beitrag vom Vortag in eine spannende Twitter-Diskussion ein. Den Reaktionen entnehme ich, dass ich meine Gedanken nicht so präzisiert habe, wie ich hätte sollen. Nico Nolden lehnt die Authentizitätsdebatten – zumindest in Bezug auf digitale Spiele – weiterhin ab, weil…

Authentizität, dies ist fast schon eine Binse, ist ein kulturwissenschaftliches Modewort, zu dem es ebenso viele Definitionsangebote wie Dekonstruktionsversuche gibt. Ein Blick in den Sammelband „Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen“ (hg. v. Michael Rössner und Heidemarie Uhl, 2012) zeigt das weite Spektrum des Authentizitätsbegriffs. Vollkommen treffend halten die HerausgeberInnen in ihrem Vorwort aber fest, was der Kollege Nolden anspricht. Dort heißt es: „Freilich: Authentizität zählt nicht eben zum Kanon kulturwissenschaftlicher Leitbegriffe – vielmehr wird damit ein Begriff aufgerufen, der – wie etwa auch ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wahrheit‘ – durch den cultural turn seine Unschuld verloren hat: Vorstellungen von Echtheit, Eigentlichkeit, Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit sind gesellschaftlich bedingt, kontingente Konstrukte, die kommunikativ generiert und im Rahmen von Machtbeziehungen verhandelt werden.“ (S. 9) Oder kurz: „Authentizität“ gibt es nur im Doppelpack mit „Inszenierung“.

Aus der Feststellung, dass die Beurteilung von Authentizität nicht auf die Beurteilung des Dargestellten, sondern des kommunikativen Inszenierungsprozesses hinauslaufen sollte, leite ich – mutmaßlich im Gegensatz zum Kollegen Nolden – eine nötige geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Authentizität ab. Es ist meiner Meinung nach unabdingbar, dass wir uns mit den Entstehungsprozessen von Geschichtsbildern und den Vorstellungen von „Echtheit“ auseinandersetzen und diese Debatte nicht ad acta legen.

Zugegeben: Ich verstehe die Resignationslust, wenn man mit kritischen Geistern über Detailtreue diskutiert. Doch sind es nicht der anachronistische Umhang im Computerspiel, nicht die Armbanduhr eines Reenactors und nicht der Vortrag eines historischen Gerichtsurteils durch eine Frau im Theater, die uns von den wesentlichen Fragen abbringen sollten, nämlich: Was wird von den ZuschauerInnen/UserInnen als echt/ursprünglich/authentisch empfunden (und warum)? Und wie wirkt der Prozess der Inszenierung auf diese Empfindung ein? Wie produzieren wir also Geschichtsbilder?

Mein gestriges Plädoyer war, dass wir als HistorikerInnen vielmehr die Seiten wechseln sollten: Als WissenschaftlerInnen sollten wir nicht die überkritischen KonsumentInnen mimen, sondern als BeraterInnen bzw. MacherInnen mit unseren Reflexionen in den Entstehungsprozess eingreifen. Und dabei sollte es m.E. nicht (nur) um die Rekonstruktion von Vergangenheit, sondern vielmehr um die Sensibilisierung für den Konstruktionscharakter der Inszenierung gehen. Denn die von Rössner/Uhl zitierte „Sehnsucht nach dem Ursprünglichen“ werden die KonsumentInnen nicht ablegen; sie werden auch weiterhin sagen „Ach, das wusste ich noch gar nicht!“ oder „So war das also!“ oder „Das habe ich aber anders gelernt!“. Deshalb sollten wir uns auch nicht der Reflexion und Dekonstruktion dieser Geschichtsbilder entziehen.

tbc…