Back to the 80s! Liegt die Zukunft in der Vergangenheit?

Es ist eurovisionäre Hochsaison: Die rund 40 teilnehmenden Länder wählen derzeit ihre Beiträge für den Eurovision Song Contest am 13. Mai in Kiew aus. Wie immer eine Mischung aus Pop, Plüsch und Plastik. Mit Blick auf meine ESC-Übung, die ich im Sommersemester anbiete, verfolge ich das pompöse Procedere in diesem jahr besonders aufmerksam. Ein Trend springt einem geradezu ins Auge: Innovation durch Vergangenheitsbezüge. Dies kann keinesfalls nur an der Vorjahressiegerin Jamala mit ihrer wehklagenden Krimtataren-Deportations-Ballade „1944“ gelegen haben. Der Grund ist viel zeitgeistiger.

Wir wissen natürlich, dass insbesondere in der Pop-Musik immer wieder Elemente vergangener Erfolgrezepte adaptiert und damit in die Gegenwart gehievt werden. Doch in diesem Jahr neigt fast ein Viertel der bisher auserwählten Beiträge zu starken Reminiszenzen an die 1980er Jahre – musikalisch und/oder optisch. Eine kleine Auswahl:

(1) Deutschland

„Das ist alles nur geklaut – eoh, eoh“, möchte man singen, sobald man den sehr soliden deutschen Beitrag von Levina hört. Dummerweise haben die Prinzen ihren Erfolgssong erst 1993 veröffentlicht, sodass er nicht ganz zur 1980er-Thematik passt. Sei’s drum. Die jüngeren ZuhörerInnen erkennen in dem wiederkehrenden Sample des Songs sofort den Song „Titanium“ von David Guetta feat. Sia. Die älteren ZuhörerInnen haben schon bei Guetta/Sia (2011) sofort erkannt, dass das Sample aus den 1980ern stammt und zwar von The Police und ihrem Hit „Every Breath You Take“ (1983). Andrew Gregory vom Daily Telegraph gehört scheinbar zu den jüngeren, hat aber ebenfalls sofort „a hint of 80’s flavour“ bei Guetta/Sia gewittert – immerhin.

Wer den 80er Sound nicht umgehend erkennt, wird durch die Videomacher mit der Nase darauf gestoßen: Die Optik des Musikvideos ist vollkommen auf die 1980er getrimmt, wenn auch mit einem modernen Anstrich. Man beachte bloß Schnitttechnik (Kaleidoskop), Farbgebung, Neonlicht, geometrische Formen, Frisur & Kosmetik der Sängerin, z.T. die Kleidung…

 

(2) Estland

Wenn ich als Deutscher an die 80er Jahre denke, in deren Mitte ich erst zur Welt kam, die ich also eher retrospektiv und ausschnittsweise musikalisch erkundet habe, ist bei mir vor allem Modern Talking im Ohr. Das liegt wahrscheinlich auch an der enormen Medienpräsenz eines Dieter Bohlen bis heute. Dass Modern Talking insbesondere in Osteuropa große Erfolge feierte, ist bekannt. Ob dies die Esten dazu verleitet hat, eine Modern Talking-Kopie nach Kiew zu schicken, ist (mir) hingegen unbekannt. Der Kopfstimmen- und Ahaha-Sound sowie Ästhetik und lyrischer „Tiefgang“ („Ahhhh. We lost and we found our Verona. Ahhhh. We are lost in Verona.“) des Beitrags von den ESC-Wiederholungstätern Koit Toome und Laura sprechen allerdings eine deutliche Sprache.

 

(3) Montenegro

Synthesizer-Klänge und Neonstrahlen eröffnen das Video zu „Space“, dessen Text und Ästhetik für den Balkanstaat durchaus (und leider noch immer) überraschend ist, schreit doch alles in diesem Song „Schwul!“. Umso begrüßenswerter ist die interne Entscheidung des montenegrinischen Fernsehens, den Sänger und Schauspieler des Nationaltheaters Slavko Kalezić nach Kiew zu schicken. Ein wichtiges, auch gesellschaftspolitisches Signal.

Optisch erkennen wir das übliche Spiel der 80er-Musikvideos mit Licht und Dunkelheit (schwarz/weiß), Club- und Darkroom-Verweise, nackte Haut, Muskeln und Leder. Wer an George Michaels „Faith“ oder Madonnas „Vogue“ denkt, liegt sicher nicht falsch. Lediglich die Capoeira-Posing-Szenen in einem montenegrinischen Steinbruch wollen nicht in das sonst sehr harmonische Gesamtbild passen.

 

(4) Australien

Ja, Australien nimmt am Eurovision Song Contest teil. Nun bereits im dritten Jahr. Weil es dort eine große Fangemeinde und entsprechende Einschaltquoten gibt. In diesem Jahr wird der gerade einmal 17-jährige Isaiah von Down Under nach Kiew geschickt. Hier treffen uns die 80er Jahre nicht mit voller Wucht, sondern wesentlich versteckter: Zugegeben, diese Ballade hätte auch schon in den 80ern beim ESC antreten können; Melodie und Text sind zeitlos. Die Optik (Licht & Schatten, Anzüge, Nebel) und die hämmernden Synthesizer-Sounds ab Beginn der zweiten Strophe geben die ästhetische Marschrichtung dieses Beitrags jedoch deutlich vor. Wen dies nicht überzeugt, mag sich von den ohne Zweifel sehr bewusst inszenierten Rehaugen des jungen Australiers zum Anrufen hinreißen lassen…

 

(5) Schweden

Last but not least: Der Beitrag „I can’t go on“ von Robin Bengtsson aus Schweden. Anzug, Laufband, Synthesizer ohne Ende – und das Ganze vor spacigen Visuals, die direkt aus den 80ern importiert wurden. Noch Fragen? 😉