Gestern Abend fand das Finale des traditionsreichen Sanremo-Festivals statt. Seitdem Italien wieder beim Eurovision Song Contest mitmacht (von 1998 bis 2010 hatte das Land pausiert), hat der Gewinner von Sanremo das Vorgriffsrecht auf eine Teilnahme beim ESC. Der Sieg in Ligurien ist also nicht nur ein Aushängeschild der italienischen Pophochkultur, sondern auch ein Signal für den europäischen Wettstreit. Sieger in diesem Jahr: Francesco Gabbani mit „Occidentali’s Karma“ – das Schicksal des Abendlands, wie eifrige Pegidisten wohl übersetzen würden. Oder: das Karma des Westens. Sound und Optik: Bunt, poppig, magnetisch.
Essere o dover essere? – Sein oder Seinmüssen, das ist hier die Frage, die Gabbani gleich in der ersten Liedzeile stellt. Sie ist programmatisch für alles, was folgt. Es geht um uns. Unser Seinmüssen im Strudel der Globalisierung, der Technisierung, der Digitalisierung, der Entemotionalisierung, der Anpassung. Oder mit Gabbanis Worten: „Nella tua gabbia 2×3 mettiti comodo. Intellettuali nei caffè, internettologi, soci onorari al gruppo dei selfisti anonimi. L’intelligenza è démodé, risposte facili, dilemmi inutili.“ Frei: Mach es dir in deinem Käfig von 2×3 Metern gemütlich. Intellektuelle in Kaffeebars, Internetgläubige, Ehrenmitglieder der Anonymen Selfisüchtigen. Intelligenz ist altmodisch. Einfache Antworten. Unnütze Zwangslagen.
Gabbani fängt die Wahrnehmung des Beobachters unserer Zeit ein, der sich – wie wohl viele von uns – tagtäglich fragt: Was passiert hier eigentlich um uns herum? Im Refrain bringt er das Gefühl auf den Punkt: „La folla grida un mantra, l’evoluzione inciampa, la scimmia nuda balla; occidentali’s karma:“ Die Massen schreien ein Mantra, die Evolution strauchelt, der nackte Affe tanzt – das Karma des Westens. Hüpft Ihr intellektuelles Herz beim Lesen dieser Zeilen? Dann hat der Song noch einige Zuckerstückchen mehr für Sie! In Strophe 2 folgt die Kritik an die Fortschrittsfanatiker: „Tutti tuttologi col web, coca dei popoli, oppio dei poveri.“ Jeder ist ein Allwissender dank des Webs, Kokain für die Völker, Opium für die Armen. Die große Synthese folgt prompt: „Quando la vita si distrae, cadono gli uomini. (…) Occidentali’s karma, la scimmia si rialza. Namasté, alé!“ Wenn das Leben vom Weg abkommt, fallen die Menschen. Das Karma des Westens, die Wiederauferstehung des Affen. Namaste! Auf geht’s!
Nun ist der Song bei weitem nicht der einzige, der die Entwicklungen unserer Zeit kritisch in den Blick nimmt und in ein poppiges Gewand hüllt. Doch nur wenige Songs, die am 13. Mai 2017 beim ESC-Finale auf der Bühne in Kiew zu sehen sein werden, werden solch einen Tiefgang haben. Ist das ein Erfolggarant? Nein. Wohl aber die Mischung, die unterschiedliche Zuschauergruppen perfekt zu bedienen weiß: Ein attraktiver Italiener singt auf Italienisch und mit einer rauen Stimme einen sehr eingängigen Song. Die Inszenierung in Sanremo war bunt, aufmerksamkeitsheischend und durchzogen von unterhaltsamen Gimmicks, wie dem mittanzenden Affen oder das Alé-rufende Orchester. Bei einem 200 Millionen-Publikum nicht zu vernachlässigen ist zudem die Mitklatsch- und -tanzbarkeit eines Songs. Meine Prognose, wenn diese Inszenierung es nach Kiew schafft: Wieder einmal ein Top 10-Platz für die Italiener und ein Ohrwurm für meine Spotify-Liste.
Der komplette Text hier: http://www.canzoniweb.com/francesco-gabbani-occidentalis-karma-testo-video/