Zugegeben: der Eurovision Song Contest gehört seit vielen Jahren zu meinen guilty pleasures. Und ich fühle mich nicht mal sonderlich guilty dabei… Es gibt kaum etwas Entspannenderes und Unterhaltsameres als bei der Arbeit alle achtzig Songs des moldawischen Vorentscheids zu hören. Oder an einem kalten Samstagabend im Februar das Spektakel in Schweden zu verfolgen. Aber mich interessiert nicht nur die Musik, die stets zwischen Hit und Trash changiert, sondern auch das Drumherum. Der Grand Prix, einst in den 1950ern als verbindende (west)europäische Veranstaltung der European Broadcasting Union (EBU) ins Leben gerufen, hat für viele ZuschauerInnen und Fans immer noch ein starkes verbindendes Element. Inzwischen ist dies vielleicht nicht mehr die Idee von Europa, sondern die Idee einer bunten, offenen Weltgesellschaft. Es waren sicher keine Zufälle, dass 1998 (im Jahr von Gildo Horn) die israelische Transsexuelle Dana International und 2014 die stimmgewaltige österreichische Conchita, ein Mann mit Bart im Gewand einer Diva, den Song Contest gewonnen haben. Menschen sind fasziniert davon, das Fremde/das Andere/das Unbekannte zu sehen. Sind wir nicht alle so? Was wir schon kennen, finden wir schnell langweilig.
Der Contest mit seinen rund 200 Millionen Zuschauern weltweit ist inzwischen eine solche polulärkulturelle Institution, dass auch die Forschung nicht länger vor ihm die Augen verschließt. Medien- und Musikwissenschaftler sind schon seit längerem aktiv. Gleich zwei „Dr. Eurovision“ – Irving Wolther und Paul Jordan – haben ihre akademischen Auseinandersetzungen mit dem Wettbewerb sogar zur Marke gemacht. Paul Jordan hat mit seiner Dissertation (2011) ein zentrales Feld angeschnitten, nämlich das der Identitäten und des nation building. Er schreibt über sein Buch: „The Modern Fairy Tale: Nation Branding, national identity and the Eurovision Song Contest in Estonia, provides a unique and intriguing insight into current debates concerning the relationship between nation and state building as well as the political management of international image in today’s Europe through an examination of debates on nation branding and the Eurovision Song Contest. Europe is a contested construct and its boundaries are subject to redefinition. This book aims to advance critical thinking about contemporary nation branding and its relationship to, and influence on, nation building.“
Fängt man an, den Song Contest durch diese Brille zu sehen, entstehen zahlreiche Fragen, die man sich als einfacher „Konsument“ sonst kaum stellt: Inwiefern finden wir spezifisch nationale Elemente in den Bühnenauftritten? Sei es im Text, im Tanz, in der Melodieführung, auf dem Hintergrund, in der Farbgebung usw. Inwiefern werden gar historische Parallelen gezogen? Wer entscheidet dies? Die Künstler, der beteiligte nationale Fernsehsender oder gar die Regierung? Geht es dabei um eine „folkloristische“ Darstellung, die bspw. einen griechischen Beitrag als griechischen erkennen lassen sollen? Oder sollen damit „neue“ Botschaften versendet werden? Die Liste ließe sich noch lang fortsetzen. Wer sich weniger für „Nationen“ und mehr für „Identitäten“ interessiert, kann mit diesen Fragen auch die Rolle der LGBT-Community und die Geschlechterrollen, Sprachfamilien und die Europaidee ergründen. Weil diese Fragen und ihre mediale Präsentation so spannend sind, habe ich mich entschlossen, sie im kommenden Sommersemester mit Studierenden in einer Übung (hoffentlich kontrovers) zu diskutieren.
Grund genug, um die nun beginnende ESC-Hochsaison (der Contest findet im Mai statt, die Vorentscheide beginnen ab Dezember) noch genauer als gewöhnlich zu beobachten. Gestern nun haben Georgien und Weißrussland ihre Vertreter für den diesjährigen Contest in Kiew ausgewählt. Wer sich an den letztjährigen Gewinnersong von Jamala („1944“) erinnert, weiß sofort, warum die historisch-politische Komponente beim ESC so spannend ist: Vor dem aktuellen Hintergrund des ukrainisch-russischen Konflikts und der Einnahme der Krim durch Russland, schickten die Ukrainer einen Song ins Rennen, der auf das Schicksal der nach Autonomie strebenden Krimtataren und ihre Deportation 1944 aufmerksam machte. „When strangers are coming… They come to your house, they kill you all and say, we’re not guilty, not guilty.“ Der moralische Anklage gegen Russland war unübersehbar.
Wer die Likes des Videos ansieht, stellt fest, dass sich Zustimmung und Ablehnung die Waage halten – ein doch eher schlechtes Ergebnis für ein Musikvideo. Das liegt sicher sowohl an der politischen Botschaft als auch an dem unkoventionellen Sound, der nicht zum Mainstream zählt. Doch warum hat der Song gewonnen? Mutmaßlich aus den selben Gründen. Ich kann nur spekulieren, sehe aber eine Melange aus anti-russischer und pro-ukrainischer Haltung, den „folkloristischen“ Elementen des Songs (Jamala singt den Refrain in der Sprache und mit den Melodien der Krimtataren) und nicht zu vergessen der eindruckvollen Visualisierung mit dem wachsenden und tief verwurzelten Baum als wahrscheinlich an.
Die neue Saison beginnt dezenter. Aber auch hier wieder mit anti-russischen Statements, wenn auch besser versteckt. Tako Gachechiladze hat den georgischen Vorentscheid mit einer stimmgewaltigen Powerballade gewonnen: Keep the Faith. Der Song an sich ist ein Showsong; er ist kaum radiotauglich. Und trotz starker Stimme und Bühnenpräsenz geht es bei dem georgischen Beitrag doch weniger um die Sängerin als vielmehr um das, was hinter ihr auf der Leinwand passiert. „There has neven been a time in history we’ve been closer to nuclear war“ steht da plötzlich. Man sieht klimaverschmutzende Fabriken, vollverschleierte Frauen, Panzer, fallende Bomben und traurige Kinder. Schwungvoll geschnitten mit Zeitungstiteln über Terror, 9/11, Flüchtlingskrise, Hunger in Afrika und „Russia invades Georgia“. Frauen proklamieren „Keep the Faith“, „Hope“, ein Mann „Save the World“. Am Ende das Bild unserer Erde aus dem Weltall.
Ja, es ist ein Appell an alle, unsere gemeinsame Welt besser zu machen, den Glauben daran und an uns selbst nicht aufzugeben – eben keep the faith! Eingeblendete Schlagzeilen wie „Russia invades Georgia“, die sich bei diesem Auftritt explizit an das georgische Publikum richten, sind jedoch klar als politische Aussagen zu verstehen. Die ehemalige Sowjetrepublik Georgien versucht sich seit Jahren durch einen unmissverständlichen Europakurs aus der russischen Einflussspäre zu lösen. Der Kaukasuskrieg 2008, in dessen Folge Russland die georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannte, verschärfte die Konflikte zwischen beiden Staaten. Auch das Assoziierungsabkommen zwischen Georgien und der EU trägt seinen Teil zur angespannten Lage bei. Doch die Georgier zieht es unbeirrbar nach Westen. In diesem Zusammenhang sehr sehenswert ist die 3sat-Doku „Der georgische Traum“: https://www.youtube.com/watch?v=lS4-zgqzVRw
Übrigens: Die Georgierin ist eine Wiederholungstäterin! Im Jahr nach dem Kaukasuskrieg wollte Georgien Stephane & 3G zum Finale des Eurovision Song Contests nach Moskau schicken.Tako Gachechiladze stand als Sängerin mit auf der Bühne. Der Titel: „We Don’t Wanna Put In„. Ein beschwingter Diskosong mit dem eindringlichen Refrain: „We Don’t Wanna Put In / The negative move, its killin‘ the groove.“ Da offenkundig auch Putin in „Put In“ seinen eigenen Namen zu hören meinte, legte der russische Veranstalter Beschwerde bei der EBU ein – der Beitrag wurde vom georgischen Fernsehen zurückgezogen und nicht ersetzt. Die EBU kommentierte diesen Vorfall nie.
Vielleicht verschwindet in Kiew der direkte Russlandbezug aus der diesjährigen Präsentation; das wäre durchaus möglich. Der Song verliert nicht an Kraft, wenn er „nur“ auf die weltumspannenden Probleme Bezug nimmt. Ich werde dieses Beispiel mit meinen Studierenden diskutieren und bin sehr gespannt, wie sie es im Hinblick auf das Konzept nation building beurteilen.