YOLOCAUST

Von K. Weisser, CC BY-SA 2.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12313104

Shahak Shapira hat es wieder getan – die Unvergänglichkeit des Holocaust, die schmerzvolle Geschichte der Jüdinnen und Juden auf die Tagesordnung katapultiert. Man muss kein Historiker sein, um auf den ersten Blick zu fühlen, was der Satiriker und selbsternannte „deutscheste Jude der Welt“ uns, den Deutschen, mit der ganzen Leidenswucht von Millionen Ermordeter vor Augen führt: Das Morden kann noch so lange her sein, die (erinnerungs)politische Tagesordnung längst zu ganz anderen Themen übergegangen sein. Dennoch haben sich die Bilder von „Mordfakriken“ wie Auschwitz und Buchenwald tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Leichenberge, Gaskammern, Erschießungen.

Doch haben sich diese Bilder von unserem aktiven Gedenken entkoppelt? Der Schluss liegt nahe, so veröffentlicht Shapira auf seiner Website yolocaust.de doch Selfies und Fotos von Menschen, die Gedenkorte aufsuchen – vor allem das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Dort stehen 2711 Betonstelen, die täglich über 10.000 BesucherInnen verzeichnen können. Es ist ein offener Ort ohne Einlasskontrollen. Verhaltensregeln sind unauffällig am Rand des Denkmals zu finden. Und so nehmen Besucherinnen und Besucher aller Nationalitäten und Glaubensrichtungen dieses Denkmal auf eine persönliche Art und Weise für sich ein. Manche schweigen oder weinen oder grübeln. Manche spazieren oder lachen oder erzählen Geschichten. Manche sitzen oder liegen oder stehen auf den Betonstelen. Und viele machen Fotos von diesem einzigartigen Ort. Hätte das Denkmal nicht die ihm zuerkannte Erinnerungsfunktion, so würde sich niemand daran stören, wenn 14-jährige Teenager durch die Stelen toben und coole Selfies von sich machen, die sie – ganz Digital Natives – sofort mit Freunden und Fremden bei Instagram, Snapchat & Co. teilen. Aber darf man an einem Ort, der betongewordene Erinnerung an millionenfachen Mord symbolisiert, andere Gefühle außer Schuld, Betroffenheit, Depression oder Trauer empfinden?

Shapira gibt auf yolocaust.de eine Antwort vor: nein. Aus den fröhlichen Berliner Selfies macht er Collagen des Grauens. Fährt man mit dem Cursor über die Fotos, so ändert sich der Hintergrund. Aus sonnigen Berliner Betonstelen werden Leichenberge, Massengräber und grausame KZ-Szenen. Es ist ein Kunstprojekt, keine Frage. Ein Projekt, das uns zum Nachdenken und zur kritischen Selbstreflexion herausfordern soll. Dies geliegt auf beeindruckende Weise. Nur wenige Sekunden auf der Seite genügen, um völlig in den Bann der abstoßenden Collagen gezogen zu werden.

In der kurzen Projektbeschreibung heißt es vermeintlich wertungsfrei über die Besucherscharen: „Viele von ihnen springen, skaten, radeln oder posen mit breitem Lächeln auf den 2711 Betonstelen des rund 19.000 m² großen Bauwerks für die Kamera. Die Bedeutung und Rolle des Mahnmals ist umstritten. Für viele Menschen symbolisieren die grauen Betonquader die Grabsteine der 6 Millionen Juden, die ermordet und in Massengräbern beerdigt wurden, oder die Asche, zur der sie verbrannten.“ Das kann und darf man so sehen. Auch für mich wirkt dieser Berliner Touristenmagnet wie ein monumantales Gräberfeld, auf dem ich vieles, aber sicher keine Freude zu empfinden vermag. Aber liegt an diesem besondere Ort nicht eine besondere Stärke, wenn ein „Erinnerungsregime“ zwar Impulse zur Wahrnehmung gibt, aber keine Empfindung aufzwingt?

Bei einem Besuch in den Baracken von Bergen-Belsen, beim trügerisch idyllischen Blick vom ehem. KZ Ravensbrück auf den Schwedt-See oder beim Betreten der Gaskammern in Oświęcim/Auschwitz sieht es anders aus. Wir sind am authentischen Ort des Mordens. All die historischen Bilder sind in unseren Köpfen präsent, verstärkt häufig durch das gedenkstättenpädagogische Programm. Das ist richtig und wichtig. Aber können wir es Menschen zum Vorwurf machen, wenn sie im Attraktionsdschungel der Hauptstadt dieses Gefühl in einem Betonfeld nicht in dieser Intensität haben? Wollen wir es jungen Menschen zum Vorwurf machen, wenn diese freiwillig und häufig bewusst einen Ort des Gedenkens aufsuchen, ihn aber mit Leben füllen?

Schon der Architekt des Denkmals, der New Yorker Peter Eisenman, sagte 2005 in einem SPIEGEL-Interview: „Ich habe immer gesagt, dass ich in den Menschen ein Gefühl erzeugen wollte, in der heutigen Zeit zu sein und dass sie eine Erfahrung machen sollen, die sie noch nie vorher gemacht haben. Eine, die sich unterscheidet und ein wenig beunruhigend ist. Die Welt ist von Information überfüllt, und hier gibt es einen Ort ohne Information. Das ist, was ich wollte.“ Nachdenken, darum geht es also. Nicht belehrt oder emotional indoktriniert werden. Einfach sehenden Auges neue Erfahrungen machen. Eisenman behielt mit seiner Einschätzung über die Nutzung des Denkmals übrigens Recht: „Menschen werden im dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie eine Schießerei zwischen Spionen in dem Feld endet. Es ist kein heiliger Ort.“

Die fehlende Authentizität und die trotz allem beeindruckende Architektur machen das Denkmal zu einem Ort, den Menschen nicht mit dem Gefühl einer emotionalen Zwangsjacke betreten müssen. Ja, wir wissen, wie wichtig Emotionen für die historische Bildung ist, und dass sie Vergangenheit nahbarer und erlebbar machen. Glücklicherweise bewahren wir dieses authentischen Gedenkort auch, um diese Form der Holocausterinnerung weiterhin möglich zu machen. Zugleich ist es wichtig, den nachfolgenden Generationen die Chance zu geben, sich die Vergangenheit auf ihre Weise anzueignen. Wie das genau aussehen könnte und was junge Menschen interessiert (und was nicht), versucht übrigens das ebenso empfehlenswerte Projekt #uploading_holocaust zu untersuchen. Aber davon an anderer Stelle mehr…